Dienstag, 1. Dezember 2015

Selig am Ende der Welt

Ich habe es geschafft. Gestern habe ich mein Ziel, das Kap Finisterre, tatsächlich erreicht. Das Kap ist ein großer Felsen mit einem Leuchtturm drauf, der in das Meer an der Westküste Spaniens hineinragt und auch "das Ende der Welt" genannt wird. Die letzten Tage der Reise waren unbeschreiblich schön; von meiner Krankheit habe ich mich größtenteils wieder erholt und neue Kraft, körperlich als auch psychisch geschöpft.
Aber ich erzähle erst einmal von vorne vom Stand vom letzten Eintrag: Nach meinem schwarzen Tag in Portomarin, an dem ich erst spät abends wegen schlechter Busverbindungen in der Herberge in Palas de Rei angekommen bin, fühlte ich mich ein kleines bisschen besser und beschloss, nur die halbe Tagesetappe mit dem Bus zu überspringen und den Rest zu laufen. Das Wetter war seit Ausbruch meiner Krankheit schlecht, es war überwiegend kalt und regnerisch. An den darauf folgenden beiden Tagen habe ich keinen Bus mehr genommen und bin ich erst 18 und dann 20 km gelaufen; es waren also theoretisch eher verträgliche Etappen, aber das Wetter und meine Krankheit haben das Laufen zur Qual gemacht und es zog sich ewig hin, weil ich sehr langsam war. Ich bin buchstäblich auf dem Zahnfleisch nach Santiago gekrochen, ich habe gejammert und gejapst. Nach der 20-km-Etappe bin ich dann aber feierlich in Santiago angekommen und es kam sogar extra für mich die Sonne raus, je näher ich dem Zentrum kam. Bevor ich zur Kathedrale ging, legte ich noch meinen Rucksack in der Herberge ab, wo auch meine Stammgruppe sich niedergelassen hat (wir hatten uns nicht abgesprochen, es ergab sich so). Sie ist schon 3 Stunden früher dagewesen und alle haben die Kathedrale schon gesehen, daher zog ich alleine zu ihr los. Dieser Weg war ein Gänsehaut-Weg und ich werde ihn nie vergessen. Vor allem der Moment, als ich endlich den Platz vor der Kathedrale betrat, war überwältigend. Ich bin dann vor Freude in Tränen ausgebrochen und habe viel, viel geweint. Ich habe noch nie so viel vor Freude geweint. Auch Stolz war mit hineingemischt und das Bewusstsein, wie unglaublich weit man es gebracht hat. Es war unbeschreiblich. Als ich mich dann wieder gefangen habe, habe ich meine Compostela im Pilgerbüro abgeholt und anschließend die Kathedrale ganz ausgiebig von innen besichtigt. Ich habe das Grab des heiligen Jakobus gesehen und meine Arme um die Jakobus-Statue hinter dem Altar gelegt, was eine Pilgertradition ist. Später lief ich noch durch die Stadt, erledigte einige wichtige Dinge und traf einige Leute und kam dann abends zur Messe in die Kathedrale zurück. Es waren sehr viele Leute da, aber davon nur wenige Pilger. Die kommen für gewöhnlich zur Messe am Mittag, zu der ich es aber nicht rechtzeitig geschafft habe. Das macht nichts. Es war eine schöne Messe und danach war ich auch recht kaputt vom langen Tag. In der Herberge war auch nichts mehr los. Alle waren kaputt. Am nächsten Morgen brach ich dann nach Finisterre auf, was noch einmal 4 Tagesetappen sind. Alle meine Freunde aus meiner Stammgruppe bis auf Anthony sind in Santiago geblieben und so musste ich dann von ihnen Abschied nehmen, was mir sehr schwer fiel. Anthony wollte auch nach Finisterre losziehen an dem Tag. Aber unser Verhältnis hat sich leider 3 Tage vorher radikal verändert, als er mir beim Verabschieden zum Bus unverhofft einen Kuss auf die Wange gab. Ich hatte schon befürchtet, dass er Gefühle für mich entwickelt hat, wegen diverser Anzeichen... ich war dann leider aus persönlichen Gründen gezwungen, ihm das Herz zu brechen und unseren Kontakt radikal zu drosseln. Auf dem Weg nach Finisterre haben wir uns noch ein paar Mal gesehen, aber kaum ein Wort gewechselt und jedesmal wenn wir uns sahen, war es irgendwie "awkward". Richtig verabschiedet haben wir uns auch nicht. Wir waren zwar letzte Nacht in der gleichen Herberge, aber er ist heute morgen einfach verschwunden. Schade. Aber so ist das jetzt nun einmal.
Der Weg nach Finisterre war die schönste Stecke, die ich gelaufen bin. Das Wetter war seit der zweiten Tagesetappe wieder sehr gut und die Landschaften einfach atemberaubend. Ich konnte schon sehr früh die Meeresküste von Weitem sehen und kam ihr mit den Tagen immer näher. Meine Gesundheit kehrte auch wieder richtig zu mir zurück und ich war sehr erleichtert darüber. So war das Laufen auch wieder ein Genuss. Vorgestern erreichte ich die Küste mit vielen kleinen Stränden und Städten an ihr entlang. Es sah genau so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die letzte Tagesetappe, die ich gestern gelaufen bin, war nur noch 13 km lang und so hatte ich einen sehr entspannen Tag. Ich legte meinen Rucksack in der letzten Herberge in der Stadt Fisterra ab, die bereits nach 10 km erreicht war und lief den Rest fast unbepackt bis zum Kap Finisterre. Dort kam ich um ca.15 Uhr an und blieb bis zum Sonnenuntergang. Ich genoss diesen Tag sehr und war einfach nur selig. Ich hatte keine Sorgen, keine störenden Gedanken und fühlte mich einfach nur geborgen und in meiner Mitte ruhend. Geweint vor Glück habe ich auch ein bisschen. Nach so einer langen Reise, die mit so vielen Erinnerungen, Bekanntschaften, ja auch Strapazen verbunden war, am Ende der Welt angekommen zu sein, war ein sehr bewegendes Erlebnis. Ich bin so dankbar für meine Erfahrungen auf dem Weg. Es war sehr beeidruckend, was ich alles gesehen habe. Ich hatte alle möglichen Landschaften gesehen, alle möglichen Wetter- und Stimmungslagen durchgemacht, so viele Herausforderungen gemeistert, so viel gelernt. Ich fühle mich verändert, irgendwie gewachsen. Und ich denke mittlerweile auch, dass es besser so war, dass ich bis Leon öfter den Bus nahm, denn wäre ich nur 2 Tagesetappen zurück gewesen, hätte ich die Berge hinter Leon in heftigen Schneefällen und teils Stürmen überwinden müssen, so wie es einige Pilgerfreunde von mir mussten. Das wäre nicht mehr lustig und auch durchaus gefährlich gewesen. Es ist also alles zeitlich genau richtig so gelaufen, wie es war. Ich denke, dass ich da gut geführt wurde von dem Etwas, das als Gott bezeichnet wird. Ich bin heute auf dem Rückweg nach Hause und auch sehr ausgelaugt. Ich freue mich darauf, wieder eine Weile an einem festen Ort zu sein. Auszuruhen. Privatsphäre zu haben. Warmes Essen und warme Getränke zu mir zu nehmen. Und meine Weiterreise nach Südostasien zu planen.
Der Camino hat nicht wirklich am Kap Finisterre aufgehört. Ich hatte die Erkenntnis, dass das ganze Leben ein Camino ist und das Kap, so wie alles davor, nur Stationen auf meinem Weg waren. Es geht immer weiter. Und ich freue mich unheimlich auf alles, was da noch auf mich zukommt.

Fotos:
1: Die "Musterstrecke" in der Region Galizien, die letzte Region des Jakobsweges. Es ging die meiste Zeit durch solche Wälder.
2: Monument in Monte de Gozo, kurz vor Santiago
3: Glücklich und verheult vor der Kathedrale in Santiago
4: Altar in der Kathedrale
5: Aufbruch nach Fisterra
6-8: Galizien und so
9-11: An der Meeresküste
12-16: Kap Finisterre