Dienstag, 1. Dezember 2015

Selig am Ende der Welt

Ich habe es geschafft. Gestern habe ich mein Ziel, das Kap Finisterre, tatsächlich erreicht. Das Kap ist ein großer Felsen mit einem Leuchtturm drauf, der in das Meer an der Westküste Spaniens hineinragt und auch "das Ende der Welt" genannt wird. Die letzten Tage der Reise waren unbeschreiblich schön; von meiner Krankheit habe ich mich größtenteils wieder erholt und neue Kraft, körperlich als auch psychisch geschöpft.
Aber ich erzähle erst einmal von vorne vom Stand vom letzten Eintrag: Nach meinem schwarzen Tag in Portomarin, an dem ich erst spät abends wegen schlechter Busverbindungen in der Herberge in Palas de Rei angekommen bin, fühlte ich mich ein kleines bisschen besser und beschloss, nur die halbe Tagesetappe mit dem Bus zu überspringen und den Rest zu laufen. Das Wetter war seit Ausbruch meiner Krankheit schlecht, es war überwiegend kalt und regnerisch. An den darauf folgenden beiden Tagen habe ich keinen Bus mehr genommen und bin ich erst 18 und dann 20 km gelaufen; es waren also theoretisch eher verträgliche Etappen, aber das Wetter und meine Krankheit haben das Laufen zur Qual gemacht und es zog sich ewig hin, weil ich sehr langsam war. Ich bin buchstäblich auf dem Zahnfleisch nach Santiago gekrochen, ich habe gejammert und gejapst. Nach der 20-km-Etappe bin ich dann aber feierlich in Santiago angekommen und es kam sogar extra für mich die Sonne raus, je näher ich dem Zentrum kam. Bevor ich zur Kathedrale ging, legte ich noch meinen Rucksack in der Herberge ab, wo auch meine Stammgruppe sich niedergelassen hat (wir hatten uns nicht abgesprochen, es ergab sich so). Sie ist schon 3 Stunden früher dagewesen und alle haben die Kathedrale schon gesehen, daher zog ich alleine zu ihr los. Dieser Weg war ein Gänsehaut-Weg und ich werde ihn nie vergessen. Vor allem der Moment, als ich endlich den Platz vor der Kathedrale betrat, war überwältigend. Ich bin dann vor Freude in Tränen ausgebrochen und habe viel, viel geweint. Ich habe noch nie so viel vor Freude geweint. Auch Stolz war mit hineingemischt und das Bewusstsein, wie unglaublich weit man es gebracht hat. Es war unbeschreiblich. Als ich mich dann wieder gefangen habe, habe ich meine Compostela im Pilgerbüro abgeholt und anschließend die Kathedrale ganz ausgiebig von innen besichtigt. Ich habe das Grab des heiligen Jakobus gesehen und meine Arme um die Jakobus-Statue hinter dem Altar gelegt, was eine Pilgertradition ist. Später lief ich noch durch die Stadt, erledigte einige wichtige Dinge und traf einige Leute und kam dann abends zur Messe in die Kathedrale zurück. Es waren sehr viele Leute da, aber davon nur wenige Pilger. Die kommen für gewöhnlich zur Messe am Mittag, zu der ich es aber nicht rechtzeitig geschafft habe. Das macht nichts. Es war eine schöne Messe und danach war ich auch recht kaputt vom langen Tag. In der Herberge war auch nichts mehr los. Alle waren kaputt. Am nächsten Morgen brach ich dann nach Finisterre auf, was noch einmal 4 Tagesetappen sind. Alle meine Freunde aus meiner Stammgruppe bis auf Anthony sind in Santiago geblieben und so musste ich dann von ihnen Abschied nehmen, was mir sehr schwer fiel. Anthony wollte auch nach Finisterre losziehen an dem Tag. Aber unser Verhältnis hat sich leider 3 Tage vorher radikal verändert, als er mir beim Verabschieden zum Bus unverhofft einen Kuss auf die Wange gab. Ich hatte schon befürchtet, dass er Gefühle für mich entwickelt hat, wegen diverser Anzeichen... ich war dann leider aus persönlichen Gründen gezwungen, ihm das Herz zu brechen und unseren Kontakt radikal zu drosseln. Auf dem Weg nach Finisterre haben wir uns noch ein paar Mal gesehen, aber kaum ein Wort gewechselt und jedesmal wenn wir uns sahen, war es irgendwie "awkward". Richtig verabschiedet haben wir uns auch nicht. Wir waren zwar letzte Nacht in der gleichen Herberge, aber er ist heute morgen einfach verschwunden. Schade. Aber so ist das jetzt nun einmal.
Der Weg nach Finisterre war die schönste Stecke, die ich gelaufen bin. Das Wetter war seit der zweiten Tagesetappe wieder sehr gut und die Landschaften einfach atemberaubend. Ich konnte schon sehr früh die Meeresküste von Weitem sehen und kam ihr mit den Tagen immer näher. Meine Gesundheit kehrte auch wieder richtig zu mir zurück und ich war sehr erleichtert darüber. So war das Laufen auch wieder ein Genuss. Vorgestern erreichte ich die Küste mit vielen kleinen Stränden und Städten an ihr entlang. Es sah genau so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die letzte Tagesetappe, die ich gestern gelaufen bin, war nur noch 13 km lang und so hatte ich einen sehr entspannen Tag. Ich legte meinen Rucksack in der letzten Herberge in der Stadt Fisterra ab, die bereits nach 10 km erreicht war und lief den Rest fast unbepackt bis zum Kap Finisterre. Dort kam ich um ca.15 Uhr an und blieb bis zum Sonnenuntergang. Ich genoss diesen Tag sehr und war einfach nur selig. Ich hatte keine Sorgen, keine störenden Gedanken und fühlte mich einfach nur geborgen und in meiner Mitte ruhend. Geweint vor Glück habe ich auch ein bisschen. Nach so einer langen Reise, die mit so vielen Erinnerungen, Bekanntschaften, ja auch Strapazen verbunden war, am Ende der Welt angekommen zu sein, war ein sehr bewegendes Erlebnis. Ich bin so dankbar für meine Erfahrungen auf dem Weg. Es war sehr beeidruckend, was ich alles gesehen habe. Ich hatte alle möglichen Landschaften gesehen, alle möglichen Wetter- und Stimmungslagen durchgemacht, so viele Herausforderungen gemeistert, so viel gelernt. Ich fühle mich verändert, irgendwie gewachsen. Und ich denke mittlerweile auch, dass es besser so war, dass ich bis Leon öfter den Bus nahm, denn wäre ich nur 2 Tagesetappen zurück gewesen, hätte ich die Berge hinter Leon in heftigen Schneefällen und teils Stürmen überwinden müssen, so wie es einige Pilgerfreunde von mir mussten. Das wäre nicht mehr lustig und auch durchaus gefährlich gewesen. Es ist also alles zeitlich genau richtig so gelaufen, wie es war. Ich denke, dass ich da gut geführt wurde von dem Etwas, das als Gott bezeichnet wird. Ich bin heute auf dem Rückweg nach Hause und auch sehr ausgelaugt. Ich freue mich darauf, wieder eine Weile an einem festen Ort zu sein. Auszuruhen. Privatsphäre zu haben. Warmes Essen und warme Getränke zu mir zu nehmen. Und meine Weiterreise nach Südostasien zu planen.
Der Camino hat nicht wirklich am Kap Finisterre aufgehört. Ich hatte die Erkenntnis, dass das ganze Leben ein Camino ist und das Kap, so wie alles davor, nur Stationen auf meinem Weg waren. Es geht immer weiter. Und ich freue mich unheimlich auf alles, was da noch auf mich zukommt.

Fotos:
1: Die "Musterstrecke" in der Region Galizien, die letzte Region des Jakobsweges. Es ging die meiste Zeit durch solche Wälder.
2: Monument in Monte de Gozo, kurz vor Santiago
3: Glücklich und verheult vor der Kathedrale in Santiago
4: Altar in der Kathedrale
5: Aufbruch nach Fisterra
6-8: Galizien und so
9-11: An der Meeresküste
12-16: Kap Finisterre

Sonntag, 22. November 2015

Cat-astrophe auf den letzten Kilometern

Es ist leider doch der äußerste Notfall eingetreten, der mich dazu zwingt, wieder Busse zu nehmen, denn ich bin seit gestern sehr schwer erkältet. Schon 2 Tage zuvor hatte sich die Krankheit angekündigt, indem ich sehr wenig Energie beim Laufen und starke Kopf- und Bauchschmerzen hatte. Aber ich bin trotzdem normal viel gelaufen und habe mich dabei sehr gequält. Vorletzte Nacht hatte ich dann Fieber und Schüttelfrost und damit das Handtuch geworfen. Ich habe eingesehen, dass mein Körper dringend Ruhe braucht. Daher habe ich gestern eine Etappe mit dem Bus übersprungen und den ganzen Tag in der Herberge geschlafen. Das Fieber ist abgeklungen, es geht mir aber immer noch sehr schlecht und daher nehme ich später wieder den Bus zur nächsten Etappe. Ich muss bis zum Abend warten, weil die Busverbindungen Sonntags sehr schlecht sind und so bleibt mir nichts anderes übrig, als bis dahin in Cafés herumzulungern. Das ist eine Cat-astrophe für mich und dämpft meine Laune doch sehr. Ausgerechnet jetzt, so kurz vor Santiago ("nur" noch 100 km), verlassen mich alle meine Kräfte. Aber es hilft alles nix - ich muss jetzt wieder das beste aus der Situation machen und mich einfach gut um mich kümmern.
Vor meiner Krankheit hatte ich ein paar sehr schöne Tage. Ich habe eine Art Stammgruppe gefunden, die ich jeden Abend wiedersehe und mit der ich mittlerweile sehr gut befreundet bin. Sie besteht zu 90 % aus Südkoreanern und ich habe die Erfahrung gemacht, dass das eine außergewöhnlich freundliche und offene Kultur ist. Ich liebe sie! Dann sind da noch ein Amerikaner und eine Italienerin. Wenn wir zusammen sind, wird unglaublich viel herumgealbert und gelacht. In die Gruppe bin ich durch Anthony hereingekommen, er ist Südkoreaner und in meinem Alter. Vor seinem Camino war er 4 Jahre lang Soldat gewesen und hat die Grenze zwischen Nord - und Südkorea bewacht. Jetzt orientiert er sich neu im Leben und reist erst einmal. Ich hatte ihn schon vor etwa 2 Wochen kennengelernt und er hatte mich dann letztens zum Essen mit dieser Gruppe eingeladen. Mit Anthony habe ich seitdem eine besondere Beziehung entwickelt. Wir sind mal einen halben und mal einen ganzen Tag zusammen gelaufen. Mit ihm ist das Laufen sehr angenehm, denn er nimmt viel Rücksicht auf mein Tempo und mein Bedürfnis nach Pausen. Wir haben auf dem Weg sehr viel über alles mögliche geredet (sofern es ging, denn manchmal haben wir eine Sprachbarriere) und es waren herrliche Tage. An dem ganzen Lauftag, den wir zusammen hatten, haben wir sogar 30 km geschafft! Ich hätte am Anfang meiner Reise nie gedacht, dass ich das mal schaffen würde. Aber Anthony hat mir auch sehr geholfen, indem er meinen Rucksack auf den letzten 10 km, in denen es immer steil bergauf ging, für mich getragen hat. Ohne ihn hätte ich die Strecke definitiv nicht geschafft. Er ist ein solider Typ (wir benutzen den Ausdruck gerne) und sowas wie mein "best camino buddy".
Ich hatte auch eine großartige Geburtstagsfeier. Das war zwar schon nach einem der Lauftage, an dem es mir schlecht ging, aber abends sah ich alle aus meiner Stammgruppe in der Herberge wieder und wir haben gemeinsam gegessen (unser "Chefkoch" hat extra für mich ein Spezialmenü gekocht) und hinterher noch viel zusammen gesessen. Es wurde nicht wenig Alkohol dabei vernichtet, wobei ich selbst möglichst wenig getrunken habe, weil mein Körper sehr empfindlich darauf reagiert. Wir haben viel gelacht, gesungen und zum Schluss auch getanzt. Es war ein unvergesslicher Abend und ich bin sehr dankbar dafür, dass ich ihn mit diesen Leuten verbringen konnte! Am nächsten Tag ging alles, wie gesagt, gesundheitlich hart bergab bei mir und jetzt habe ich einen Tiefpunkt. Aber ich gebe mir Mühe, positiv zu denken und schnell wieder auf die Beine zu kommen. Was für ein Abenteuer diese Reise ist. Wenn ich sie bewältigt habe, bin ich bestimmt unzerstörbar! :D

Fotos:
1: Anthony und ich
2-9: Orte auf dem Weg
10: Meine Geburtstagsfeier

Montag, 16. November 2015

I do it my way

Die nächste wichtige Erkenntnis, die ich über den Camino hatte, ist, dass es keinen perfekte Art und Weise gibt, ihn zu beschreiten. Jeder muss ihn auf seine eigene Weise machen und es geht nicht darum, die 800 (in meinem Fall 900) km mustergültig durchzuziehen, sondern es geht um das Unterwegssein. Der Weg ist das Ziel, wie es so schön heißt. In diesem Sinne bin ich sehr muster-ungültig unterwegs, denn mittlerweile habe ich schon das vierte Mal einen Bus genommen, um halbwegs in meinem Zeitplan zu bleiben. Diesmal nahm ich einen Bus von Sahagun bis León und übersprang somit rund 56 km. Erst hat das meine Laune sehr gedämpft. Es ist auch einfach ärgerlich. Aber dann kam mir andererseits besagte Erkenntnis und das half mir über den Ärger über mich selbst hinweg. Tatsächlich erleben viele Pilger das Gleiche, wenn auch in unterschiedlich großem Ausmaß. Wir erkennen, dass wir nicht Superman sind und lernen, uns anzunehmen, so wie wir sind. Jeder gibt sein bestes und es geht nicht darum, sich mit anderen zu vergleichen. Ich habe deswegen auch aufgehört, mich zu wundern, warum andere Pilger immer schneller laufen, als ich (Ich werde ständig überholt). Ich bin irgendwie bei allem die Langsamste, aber ich finde meinen Rhythmus gut und während andere es wichtig finden, gegen 2 an ihrem Ziel anzukommen, ist es mir nur noch wichtig, vor Sonnenuntergang anzukommen. Ich bin lockerer geworden. Trotzdem schaffe ich mittlerweile im Durchschnitt meine 24 km pro Tag (die muss ich auch schaffen, um Bus-frei nach Finisterre zu kommen) und habe somit ein genauso gutes Tagespensum, wie viele andere Pilger. Dann gibt es noch diese Leute, die so 30 bis 40 km pro Tag machen, aber ich frage mich, ob ihr Ziel tatsächlich der Weg oder nur das Ziel (Santiago) ist. Sie preschen sehr schnell voran, obwohl bisher alle auf meine Frage, ob sie unter Zeitdruck stehen, mit nein geantwortet haben. Ich verstehe es nicht ganz, warum sie sich dann so hetzen. Aber jedem das Seine.
Ich bekomme meine Erinnerungen der letzten Tage schlecht auf die Reihe, weil ich täglich so viel Unterschiedliches erlebe. Ich schreibe sehr ausführlich Tagebuch, um das abzufangen; mein Kopf würde sonst wirklich platzen. Aber ich versuche jetzt mal, die Besonderheiten hier zusammenzufassen:
Vorweg erst einmal: Ich habe sehr großes Glück mit dem Wetter. Es ist seit über einer Woche einfach ideal. Fast immer strahlend blauer Himmel, um die 15 Grad und kein einziger Regentropfen. Morgens ist es immer sehr kalt und neblig, aber das legt sich schnell. Zwischenzeitlich hatte ich in den letzten Tagen eine Krise mit meinen Füßen, weil sich die Sehnen an den Oberseiten bei beiden entzündet haben. Aber ich habe es mit 2 "schonenden" Wandertagen von 17 und 15 km, Schmerztabletten und sehr locker geschnürten Schuhen in den Griff bekommen. Dummerweise (und wie nicht anders zu erwarten) haben sich durch die Schnürung sehr viele Blasen und wunde Stellen gebildet und meine Füße sind jetzt so ziemlich überall abgeklebt, wo es geht. Und so laufe ich meine 24 km am Tag! Man gewöhnt sich an den Schmerz - und auskuriert wird im Dezember! Lieber will ich mir die Füße zu Stummeln ablaufen, als noch einmal den Bus zu nehmen, denn jetzt muss auch mal gut sein damit. Ich würde den Bus nur noch im äußersten Notfall nehmen. Und so schlimm ist das alles nicht, tatsächlich erlebe ich mich gerade als sehr stark und ich habe eine hammer Kondition. Das ist eine der sehr positiven Seiten dieser Reise. Also, macht euch keine Sorgen... ich weiß schon, was ich tue.
Da ich einen großen Teil der Kastillen (und damit auch der Meseta) mit dem Bus übersprungen habe, bin ich jetzt wieder in anderen Landschaften unterwegs, die hügeliger/ bergiger sind. Auch die Pflanzen und die Dörfer werden allmählich anders. Zur Zeit bin ich in Ponferrada, einer Großstadt. Gestern und heute habe ich einen mächtigen Bergpass überquert, um hier anzukommen. Auf der höchsten Stelle dieses Passes habe ich letzte Nacht in der wohl bisher sonderbarsten Herberge geschlafen. Es war eine Art Templer-Residenz in einer kleinen Hütte ohne Heizung, Sanitäranlagen und Warmwasser. Dafür aber mit waschechtem mittelalterlichem Plumsklo, sehr gastfreundlichen Hausherren in Templer-Kleidung und vielen süßen Hunden und Katzen. Es war super! Echt jetzt.
Ich habe schon einige größere Städte gesehen, doch ich muss sagen, von all diesen Städten war León bisher die Schönste. Ich habe recht viel Zeit dort verbraucht. Dummerweise muss man in Spanien für die Besichtigung von wichtigen Kirchen und Kathedralen immer bezahlen (außer bei Messen) und so habe ich alles Große und Prächtige immer nur von außen gesehen (mit Ausnahme von der Kathedrale in Santo Domingo de la Calzada). Eines Tages laufe ich den Jakobsweg vielleicht nochmal und kann mir solche Dinge dann leisten... Jedenfalls war ich echt begeistert von León. Und ich bin nach wie vor begeistert von den Menschen, die ich treffe. Mit einigen bin ich ein Stück gelaufen und dabei habe ich auch festgestellt, dass ich lieber alleine laufe, denn alle laufen schneller als ich und ich kann mich auch schlechter auf die Umgebung konzentrieren. Mit anderen hatte ich herrliche Abende (und Abendessen) verbracht. Es ist so seltsam, wenn man sich verabschiedet, weil man nie weiß, ob man sich wiedersieht. Im Grunde sind es nur sehr wenige Leute, die ich mehrmals getroffen habe und dieses ständige Neu-Kennenlernen und Verabschieden von Leuten finde ich auch anstrengend. Es ist alles sehr unbeständig, der Weg und die Bekanntschaften. Aber so ist es eben auf dem Camino. Jeder geht seinen eigenen Weg... und ich gehe meinen.

Fotos:
1-3: Die Kastillen vor León
4-5: Leon City und Kathedrale (zu riesig für ein Foto)
6: Puente del Orbigo
7-8: Astorga City
9-10: Die Kastillen ab León
11: Cruz de Ferro (hier legt jeder Pilger ein Steinchen ab, das er von zu Hause mitgebracht hat. So auch ich. Es war ein bewegendes Erlebnis)
12: Die Templer-Residenz

Montag, 9. November 2015

Erkenntnisse des Pilgerdaseins

Seit 3 einhalb Wochen bin ich nun schon auf dem Camino. Es ist erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht, wenn es auch zweifelsohne Momente gibt, in denen die Zeit einfach nicht voranschreiten möchte. Das sind meist die letzten paar Kilometer vor dem Ziel, bei denen ich völlig fertig bin und einfach nur noch ankommen möchte. Aber das geht jedes Mal vorbei, wenn man nur weiterläuft, habe ich tiefsinnigerweise festgestellt. Da hilft auch kein Jammern und kein Klagen, das einzige, was hilft, ist Laufen. Ich muss mich oft an diese Erkenntnis erinnern, wenn ich leide. Ja, der Jakobsweg ist verdammt anstrengend. Ja, Leid ist definitiv ein Bestandteil des Weges. Aber auf jedes Leid folgt auch wieder die Freude über das Unterwegssein und die Freiheit, die man damit genießt. Der Jakobsweg ist definitiv auch sehr erfüllend.
Ich bin mittlerweile in einer Art Pilgeralltag angekommen. Ich habe mich an einen bestimmten Tagesrhythmus und an das lange Laufen gewöhnt und fühle mich ganz wohl damit. Im Detail läuft jeder Tag so ab, dass ich morgens um halb 7 aufstehe, ca. 2 Stunden lang die Weiterreise vorbereite und zwischen 8 und 9 aufbreche. Dann laufe ich so meine 7 bis 9 Stunden pro Tag, mache zwischen 20 und 25 km und komme irgendwann nachmittags in irgendeiner Herberge an. Dann gilt es, wichtigen Pilgerkram zu erledigen, wie duschen, einkaufen, kochen und Wäsche waschen. Manchmal liege ich aber erstmal 1 bis 2 Stunden "tot" im Bett. Außerdem verbringe ich in den Herbergen oft einige Zeit damit, mit anderen Pilgern zu quatschen. Mit diesem Rhythmus bin ich sehr ausgelastet und es bleibt wenig Zeit am Tag für andere Dinge. Ich werde sehr früh müde, schon so um 9 und gehe dann auch schlafen. Und am nächsten Tag geht alles von vorne los. Hierbei kam mir auch die Erkenntnis, dass mein Körper ein Wunderwerk ist. Es ist erstaunlich, wie viel er leisten kann und vor allem, wie schnell er sich regenerieren und nochmal so viel leisten kann.
Nachdem ich 5 Tage durch Regen und Kälte und viel Matsch gewandert bin, war es eine wahre Wohltat, dass seit vorgestern wieder die Sonne herausgekommen ist. Das Wetter ist wieder richtig herrlich. Zur Zeit laufe ich durch eine Landschaft, die Meseta genannt wird. Sie ist recht flach und weit und mit viel Grün übersät. Wirklich sehr schön und sehr angenehm zu laufen!
Meine einzelnen Etappen der letzten Tage werde ich hier nicht mehr aufführen. Ich erinnere mich zumeist nicht einmal mehr selbst an die Ortsnamen. Wichtger ist, was ich unterwegs erlebe. So waren die besonderen Erlebnisse der letzten Tage meine dritte Begegnung mit Jeannick aus Australien, mit dem ich schon so etwas wie Freundschaft geschlossen habe, und die unzähligen lustigen oder interessanten Bekanntschaften und all die warmherzigen Gesten, die ich empfange. Ich kann das hier nicht im Detail aufführen. Ein weiteres besonderes Erlebnis war, dass ich mich in der Gegend um Atapuerca herum das erste Mal so richtig ordentlich verlaufen habe. Ich habe den Pfeil an einer Abbiegung übersehen und bin so nichts Böses ahnend immer weiter in die falsche Richtung gelaufen. Dann irgendwann in einem Dorf kam es mir buchstäblich spanisch vor, dass es nirgends Pfeile gibt (normalerweise ist der Jakobsweg so übersät davon, dass man keinen Reiseführer mehr braucht) und auch schon vorher lange keine mehr zu sehen waren... etwas panisch zückte ich mein Smartphone mit dem mir heiligen GPS und siehe da, ich bin komplett falsch. Ich musste dann über einen kleinen Berg laufen, um wieder auf den normalen Weg zu kommen, ohne komplett zurücklaufen zu müssen. Danach war ich ziemlich angepisst und es war kalt und regnerisch, weswegen ich an dem Tag auch frühzeitig in eine Herberge gegangen bin (in welcher  ich dann aber auch Jeannick traf, also ist alles gut ausgegangen). Seitdem zücke ich immer sofort mein Smartphone, sobald mir etwas auch nur ein bisschen spanisch vorkommt. Man lernt aus seinen Fehlern. Und man lernt vom Camino. Ich möchte zum Schluss noch einmal kurz meine bisweitigen Erkenntnisse des Pilgerdaseins zusammenfassen:
- GPS ist großartig
- Spanische Busse sind anders
- Man muss sich an den Zustand des Immer-dreckig-seins gewöhnen und hygienische Standards herabsetzen
- "No ablo español" (ich spreche kein Spanisch) und "donde esta el supermercado/ el camino de Santiago?" (Wo ist der Supermarkt/ der Camino?") sind essentielle Sätze
- Man erlebt Höhen und Tiefen auf dem Camino. Beides gehört dazu.
- Weiterlaufen hilft
- Was ich brauche, fällt mir zu. Wenn mir etwas nicht zufällt, was ich meine zu brauchen, dann soll es mich etwas lehren
- Was einen nicht umbringt, macht einen stärker (das ist keinem neu, aber auf dem Jakobsweg wird es einem besonders klar)
- Was ich im Außen erlebe, geschieht auch in mir drinnen...
Ich habe manchmal so meine tiefsinnigen Momente und denke viel nach, während ich laufe. Und dann gibt es wieder viele Momente, in denen ich sehr stark im Hier und Jetzt bin. Unabhängig davon, ob ich das Hier und Jetzt genieße oder ob ich leide, ist es ein erstrebenswerter Zustand für mich und auf dem Camino kann man ihn gut üben. Außerdem lernt man, täglich neue, unvorhergesehene Herausforderungen zu bewältigen und zu improvisieren. Man muss die Situationen nehmen, wie sie kommen und das beste draus machen. Aber es macht keinen Sinn, sich vorher Sorgen darüber zu machen, was kommen könnte. Dafür gibt es viel zu viele Möglichkeiten und weit im Voraus zu planen erscheint mir sinnlos. Das sind Einstellungen, die ich gerne auch mit nach Hause nehmen möchte. Alles in allem ist es ein anstrengender, aber sehr heilsamer Weg und ich bin nach wie vor sehr dankbar, ihn laufen zu dürfen.

Fotos:
1. Ich vor der Kathedrale in Burgos (Schöne Großstadt)
2-3. Sonnenaufgang!
4-6. Meseta

Dienstag, 3. November 2015

Es läuft

Es läuft! Wortwitz... haha. Nach längerer Abstinenz habe jetzt ich endlich mal wieder die Möglichkeit und die Kraft, etwas in den Blog zu schreiben und euch im Allgemeinen zu sagen, dass es mir gut geht und ich irgendwie vorankomme. Aber ich fasse mich in diesem Eintrag möglichst kurz, weil ich extrem viel erlebe und schon jetzt einen Roman damit füllen könnte. Also kommen hier meine wichtigsten Erlebnisse der letzten Tage:
Letzten Mittwoch bin ich von Puente la Reina bis nach Lorca gelaufen. In der Herberge habe ich eine sehr nette Bekanntschaft mit einem Deutschen gemacht, der damit Spenden sammelt, dass er täglich unglaublich viel läuft und seine Fortschritte im Internet veröffentlicht. Er heißt Andreas und ist Mitte 40 und wir haben uns sehr gut verstanden. Am nächsten Tag wollte ich von Lorca den Bus nehmen und 40 km überspringen, um wieder etwas in meiner ursprünglich geplanten Zeit zu sein und doch noch zu Fuß nach Finisterre laufen zu können. Da wusste ich aber noch nicht, dass es nicht zwangsläufig Bushaltestellen auf beiden Straßenseiten gibt (ich stand dann auf der falschen Straßenseite) und man für spanische Busse winken muss und so raste der Bus an mir vorbei. Etwas angepisst lief ich dann 18 km (mein Rekord bis dahin) nach Villamayor de Monjardin. Aber letztlich war es gut so, denn in der Herberge dort war es sehr schön! Es war eine kirchliche Herberge und die Hospitaleros waren sehr warmherzig und fürsorglich. Abends aßen wir gemeinsam mit 2 anderen Pilgern und meditierten anschließend. Am nächsten Morgen wollte ich dann einen erneuten Versuch starten, einen Bus zu nehmen und einer der Hospitaleros (ein alter, unglaublich gutherziger Mann namens George) begleitete mich zur Haltestelle, die eine halbe Stunde Fußweg entfernt war. Und diesmal schaffte ich es in den Bus! Ich fuhr dann 40 km nach Logroño und war dort angekommen erstmal geplättet. Es ist eine recht große und nicht sonderlich schöne Stadt. Ich wollte von dort aus weiterlaufen, aber erst einmal musste ich ein Sportgeschäft finden, um mir eine spezielle Medizin für die Muskeln zu holen, die mir ein Profisportler empfohlen hat. Das und die Tatsache, dass ich den Jakobsweg in der Stadt wiederfinden musste und etwas herumgeirrt bin, hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Wieder einmal danke ich meinem Smartphone und dem GPS, ohne welches ich aufgeschmissen wäre. Schließlich bin ich von Logroño ca. 12 km nach Navarette gelaufen. Dort habe ich Andreas wiedergetroffen, der den Weg in Windeseile zu Fuß zurückgelegt hat und wir hatten wieder recht tiefsinnige Gespräche. Es war schön, ihn wiederzusehen. Aber noch einmal überhole ich ihn wahrscheinlich nicht mehr. Am nächsten Tag ging es dann von Navarette nach Azofra und ich habe 22 km geschafft. Meine Hoffnung, dass meine Knieschmerzen mit der Zeit abnehmen und ich immer mehr laufen kann, ist in Erfüllung gegangen! In Azofra hatte ich meine bisweit beeindruckendste Begegnung mit einer alten Frau namens Margret. Wir teilten ein Zweierzimmer miteinander und haben seeehr viel geredet. Margret kommt ursprünglich aus Manhattan und lebt jetzt in Frankreich. Sie hatte sehr großen Erfolg im Leben als Architektin und Mitarbeiterin der UNESCO. Sie läuft den Jakobsweg schon zum 11. Mal (einmal im Jahr, seit sie in Rente ist) und ist mittlerweile eine absolute Jakobsweg-Expertin. Sie hat mit ihren 3 Internet-Blogs über den Jakobsweg recht große Bekanntheit erlangt und wird auch "Miss Path" genannt. Margret hat mir sehr viele Geschichten aus ihren Jakobswegen erzählt und auch viele Tipps gegeben. Sie riet mir auch, die nächste Etappe mit dem Bus zu überspringen, weil diese sehr schwierig und schlecht für Leute mit Knieproblemen sein soll. Also hörte ich auf "Miss Path" und am nächsten Tag nahmen wir gemeinsam den Bus bis nach Santo Domingo de la Calzada. Sie ist nämlich extrem gebrechlich und kann sich nicht mehr viel zumuten. Dennoch will sie es noch einmal nach Santiago schaffen, was ich nochmals sehr beeindruckend an ihr finde. Ich werde mich nie wieder über meine Knie beschweren, nachdem ich gesehen habe, wie schwer sie es beim Laufen hat. In Santo Domingo d. l. C. angekommen ist dann noch etwas eher Unerfreuliches passiert: Ich habe zuerst Margrets Sachen aus dem Kofferraum des Busses rausgeholt und danach meine. Gerade in dem Moment, als ich nach meinem Rucksack greifen wollte, hat der liebe Busfahrer die Klappe des Kofferraumes heruntergefahren und sie traf mich volle Elle an der Stirn. Es tat sehr weh und zeitweise war mir an dem Tag schwindelig und schlecht. Aber am nächsten Tag war alles weg und ich hatte nicht einmal eine Beule. Ich muss einen phänomenalen Schutzengel haben. Margret und ich haben nach diesem Ereignis noch einen Kaffee zusammen getrunken, während ich mir die Stirn mit einem Eiswürfel kühlte. Danach zog ich weiter, während sie in der Stadt blieb. Vorher nahm ich aber noch an der Messe in der Kathedrale teil, die recht berühmt dafür ist, dass Hühner in ihr gehalten werden  (sicherlich ist dem einen oder anderen die Legende vom Hahn von Santo Domingo ein Begriff). An diesem Tag lief ich nur etwa 6 km nach Grañon und schlief in einer kirchlichen Herberge. Der Schlafplatz war auf einer Matte auf dem Boden im Dachstuhl einer Kirche. Die Gesellschaft dort war wieder großartig und es wurde gemeinsam gegessen und anschließend eine kleine Andacht in der Kirche gehalten. Von Grañon ging es gestern nach Tosantos, wieder in eine kirchliche Herberge mit ähnlichem Schlafplatz und menschlich warmer Atmosphäre. (Ich bevorzuge es allgemein, in kirchlichen Herbergen zu schlafen, weil dort noch echte Nächstenliebe praktiziert wird und es nicht um Profit geht, wie man in es in anderen Arten von Herbergen deutlich spüren kann. Und kirchliche Herbergen sind meist die Billigsten. Dafür sind sie auch etwas einfacher, aber das macht mir nichts aus.) Es war ein anstrengender Tag, weil es regnerisch und windig und kalt war und ich etwa 20 km gelaufen bin. Davor hatte ich großes Glück mit dem Wetter; es war einfach herrlich und ich habe das Laufen sehr genossen. Und die Landschaften waren so atemberaubend, dass ich manchmal mit geöffneter Kinnlade umherlief und mich nicht sattsehen konnte. Seit gestern ist alles anders, denn ich bin jetzt in den Kastillen. Das ist eine Region Spaniens, die fast nur aus sehr weiten, offenen und eher monotonen Landschaften in matschigen Brauntönen besteht. Gepaart mit dem Wetter, das heute noch etwas ätzender war, als gestern, ist das Wandern nicht mehr so ein Hochgenuss, aber ich schreite mutig voran. Heute lief ich gezwungenermaßen 24 km von Tosantos nach Agès, weil die Pilgerherbergen davor saisonbedingt zu hatten. Es regnete den ganzen Tag und ich war völlig durchnässt. Ich glaube, das war das körperlich Anstrengendste, was ich je gemacht habe. Ich bin 9 Stunden gelaufen mit wenig Pausen. Und ich bin am Leben und meinen Knien gehts gut! Darüber freue ich mich wirklich sehr, dass meine Knie mittlerweile alles mitmachen. Ich hoffe, ab morgen wird das Wetter etwas besser und wenn möglich, will ich nicht zu viel laufen. Aber mal sehen.
Soo das war jetzt möglichst knapp alles. Ich habe nicht sonderlich viel Zeit oder Kraft, mehr zu schreiben, dabei könnte ich noch viel mehr schreiben. Aber einiges kann ich sicher noch im Nachhinein ergänzen oder euch persönlich erzählen, wenn ich wieder in Deutschland bin ;)

Fotos:
1-2. Landschaften unterwegs
3: Es gibt ihn wirklich: Den Weinbrunnen, der unendlich viel Wein für Pilger spendet
4: Villamayor de Monjardin
5-10: Noch mehr Landschaften
11-12: Unterwegs in den Kastillen (man merke den harten Umbruch)