Montag, 9. November 2015

Erkenntnisse des Pilgerdaseins

Seit 3 einhalb Wochen bin ich nun schon auf dem Camino. Es ist erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht, wenn es auch zweifelsohne Momente gibt, in denen die Zeit einfach nicht voranschreiten möchte. Das sind meist die letzten paar Kilometer vor dem Ziel, bei denen ich völlig fertig bin und einfach nur noch ankommen möchte. Aber das geht jedes Mal vorbei, wenn man nur weiterläuft, habe ich tiefsinnigerweise festgestellt. Da hilft auch kein Jammern und kein Klagen, das einzige, was hilft, ist Laufen. Ich muss mich oft an diese Erkenntnis erinnern, wenn ich leide. Ja, der Jakobsweg ist verdammt anstrengend. Ja, Leid ist definitiv ein Bestandteil des Weges. Aber auf jedes Leid folgt auch wieder die Freude über das Unterwegssein und die Freiheit, die man damit genießt. Der Jakobsweg ist definitiv auch sehr erfüllend.
Ich bin mittlerweile in einer Art Pilgeralltag angekommen. Ich habe mich an einen bestimmten Tagesrhythmus und an das lange Laufen gewöhnt und fühle mich ganz wohl damit. Im Detail läuft jeder Tag so ab, dass ich morgens um halb 7 aufstehe, ca. 2 Stunden lang die Weiterreise vorbereite und zwischen 8 und 9 aufbreche. Dann laufe ich so meine 7 bis 9 Stunden pro Tag, mache zwischen 20 und 25 km und komme irgendwann nachmittags in irgendeiner Herberge an. Dann gilt es, wichtigen Pilgerkram zu erledigen, wie duschen, einkaufen, kochen und Wäsche waschen. Manchmal liege ich aber erstmal 1 bis 2 Stunden "tot" im Bett. Außerdem verbringe ich in den Herbergen oft einige Zeit damit, mit anderen Pilgern zu quatschen. Mit diesem Rhythmus bin ich sehr ausgelastet und es bleibt wenig Zeit am Tag für andere Dinge. Ich werde sehr früh müde, schon so um 9 und gehe dann auch schlafen. Und am nächsten Tag geht alles von vorne los. Hierbei kam mir auch die Erkenntnis, dass mein Körper ein Wunderwerk ist. Es ist erstaunlich, wie viel er leisten kann und vor allem, wie schnell er sich regenerieren und nochmal so viel leisten kann.
Nachdem ich 5 Tage durch Regen und Kälte und viel Matsch gewandert bin, war es eine wahre Wohltat, dass seit vorgestern wieder die Sonne herausgekommen ist. Das Wetter ist wieder richtig herrlich. Zur Zeit laufe ich durch eine Landschaft, die Meseta genannt wird. Sie ist recht flach und weit und mit viel Grün übersät. Wirklich sehr schön und sehr angenehm zu laufen!
Meine einzelnen Etappen der letzten Tage werde ich hier nicht mehr aufführen. Ich erinnere mich zumeist nicht einmal mehr selbst an die Ortsnamen. Wichtger ist, was ich unterwegs erlebe. So waren die besonderen Erlebnisse der letzten Tage meine dritte Begegnung mit Jeannick aus Australien, mit dem ich schon so etwas wie Freundschaft geschlossen habe, und die unzähligen lustigen oder interessanten Bekanntschaften und all die warmherzigen Gesten, die ich empfange. Ich kann das hier nicht im Detail aufführen. Ein weiteres besonderes Erlebnis war, dass ich mich in der Gegend um Atapuerca herum das erste Mal so richtig ordentlich verlaufen habe. Ich habe den Pfeil an einer Abbiegung übersehen und bin so nichts Böses ahnend immer weiter in die falsche Richtung gelaufen. Dann irgendwann in einem Dorf kam es mir buchstäblich spanisch vor, dass es nirgends Pfeile gibt (normalerweise ist der Jakobsweg so übersät davon, dass man keinen Reiseführer mehr braucht) und auch schon vorher lange keine mehr zu sehen waren... etwas panisch zückte ich mein Smartphone mit dem mir heiligen GPS und siehe da, ich bin komplett falsch. Ich musste dann über einen kleinen Berg laufen, um wieder auf den normalen Weg zu kommen, ohne komplett zurücklaufen zu müssen. Danach war ich ziemlich angepisst und es war kalt und regnerisch, weswegen ich an dem Tag auch frühzeitig in eine Herberge gegangen bin (in welcher  ich dann aber auch Jeannick traf, also ist alles gut ausgegangen). Seitdem zücke ich immer sofort mein Smartphone, sobald mir etwas auch nur ein bisschen spanisch vorkommt. Man lernt aus seinen Fehlern. Und man lernt vom Camino. Ich möchte zum Schluss noch einmal kurz meine bisweitigen Erkenntnisse des Pilgerdaseins zusammenfassen:
- GPS ist großartig
- Spanische Busse sind anders
- Man muss sich an den Zustand des Immer-dreckig-seins gewöhnen und hygienische Standards herabsetzen
- "No ablo español" (ich spreche kein Spanisch) und "donde esta el supermercado/ el camino de Santiago?" (Wo ist der Supermarkt/ der Camino?") sind essentielle Sätze
- Man erlebt Höhen und Tiefen auf dem Camino. Beides gehört dazu.
- Weiterlaufen hilft
- Was ich brauche, fällt mir zu. Wenn mir etwas nicht zufällt, was ich meine zu brauchen, dann soll es mich etwas lehren
- Was einen nicht umbringt, macht einen stärker (das ist keinem neu, aber auf dem Jakobsweg wird es einem besonders klar)
- Was ich im Außen erlebe, geschieht auch in mir drinnen...
Ich habe manchmal so meine tiefsinnigen Momente und denke viel nach, während ich laufe. Und dann gibt es wieder viele Momente, in denen ich sehr stark im Hier und Jetzt bin. Unabhängig davon, ob ich das Hier und Jetzt genieße oder ob ich leide, ist es ein erstrebenswerter Zustand für mich und auf dem Camino kann man ihn gut üben. Außerdem lernt man, täglich neue, unvorhergesehene Herausforderungen zu bewältigen und zu improvisieren. Man muss die Situationen nehmen, wie sie kommen und das beste draus machen. Aber es macht keinen Sinn, sich vorher Sorgen darüber zu machen, was kommen könnte. Dafür gibt es viel zu viele Möglichkeiten und weit im Voraus zu planen erscheint mir sinnlos. Das sind Einstellungen, die ich gerne auch mit nach Hause nehmen möchte. Alles in allem ist es ein anstrengender, aber sehr heilsamer Weg und ich bin nach wie vor sehr dankbar, ihn laufen zu dürfen.

Fotos:
1. Ich vor der Kathedrale in Burgos (Schöne Großstadt)
2-3. Sonnenaufgang!
4-6. Meseta

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