Die nächste wichtige Erkenntnis, die ich über den Camino hatte, ist, dass es keinen perfekte Art und Weise gibt, ihn zu beschreiten. Jeder muss ihn auf seine eigene Weise machen und es geht nicht darum, die 800 (in meinem Fall 900) km mustergültig durchzuziehen, sondern es geht um das Unterwegssein. Der Weg ist das Ziel, wie es so schön heißt. In diesem Sinne bin ich sehr muster-ungültig unterwegs, denn mittlerweile habe ich schon das vierte Mal einen Bus genommen, um halbwegs in meinem Zeitplan zu bleiben. Diesmal nahm ich einen Bus von Sahagun bis León und übersprang somit rund 56 km. Erst hat das meine Laune sehr gedämpft. Es ist auch einfach ärgerlich. Aber dann kam mir andererseits besagte Erkenntnis und das half mir über den Ärger über mich selbst hinweg. Tatsächlich erleben viele Pilger das Gleiche, wenn auch in unterschiedlich großem Ausmaß. Wir erkennen, dass wir nicht Superman sind und lernen, uns anzunehmen, so wie wir sind. Jeder gibt sein bestes und es geht nicht darum, sich mit anderen zu vergleichen. Ich habe deswegen auch aufgehört, mich zu wundern, warum andere Pilger immer schneller laufen, als ich (Ich werde ständig überholt). Ich bin irgendwie bei allem die Langsamste, aber ich finde meinen Rhythmus gut und während andere es wichtig finden, gegen 2 an ihrem Ziel anzukommen, ist es mir nur noch wichtig, vor Sonnenuntergang anzukommen. Ich bin lockerer geworden. Trotzdem schaffe ich mittlerweile im Durchschnitt meine 24 km pro Tag (die muss ich auch schaffen, um Bus-frei nach Finisterre zu kommen) und habe somit ein genauso gutes Tagespensum, wie viele andere Pilger. Dann gibt es noch diese Leute, die so 30 bis 40 km pro Tag machen, aber ich frage mich, ob ihr Ziel tatsächlich der Weg oder nur das Ziel (Santiago) ist. Sie preschen sehr schnell voran, obwohl bisher alle auf meine Frage, ob sie unter Zeitdruck stehen, mit nein geantwortet haben. Ich verstehe es nicht ganz, warum sie sich dann so hetzen. Aber jedem das Seine.
Ich bekomme meine Erinnerungen der letzten Tage schlecht auf die Reihe, weil ich täglich so viel Unterschiedliches erlebe. Ich schreibe sehr ausführlich Tagebuch, um das abzufangen; mein Kopf würde sonst wirklich platzen. Aber ich versuche jetzt mal, die Besonderheiten hier zusammenzufassen:
Vorweg erst einmal: Ich habe sehr großes Glück mit dem Wetter. Es ist seit über einer Woche einfach ideal. Fast immer strahlend blauer Himmel, um die 15 Grad und kein einziger Regentropfen. Morgens ist es immer sehr kalt und neblig, aber das legt sich schnell. Zwischenzeitlich hatte ich in den letzten Tagen eine Krise mit meinen Füßen, weil sich die Sehnen an den Oberseiten bei beiden entzündet haben. Aber ich habe es mit 2 "schonenden" Wandertagen von 17 und 15 km, Schmerztabletten und sehr locker geschnürten Schuhen in den Griff bekommen. Dummerweise (und wie nicht anders zu erwarten) haben sich durch die Schnürung sehr viele Blasen und wunde Stellen gebildet und meine Füße sind jetzt so ziemlich überall abgeklebt, wo es geht. Und so laufe ich meine 24 km am Tag! Man gewöhnt sich an den Schmerz - und auskuriert wird im Dezember! Lieber will ich mir die Füße zu Stummeln ablaufen, als noch einmal den Bus zu nehmen, denn jetzt muss auch mal gut sein damit. Ich würde den Bus nur noch im äußersten Notfall nehmen. Und so schlimm ist das alles nicht, tatsächlich erlebe ich mich gerade als sehr stark und ich habe eine hammer Kondition. Das ist eine der sehr positiven Seiten dieser Reise. Also, macht euch keine Sorgen... ich weiß schon, was ich tue.
Da ich einen großen Teil der Kastillen (und damit auch der Meseta) mit dem Bus übersprungen habe, bin ich jetzt wieder in anderen Landschaften unterwegs, die hügeliger/ bergiger sind. Auch die Pflanzen und die Dörfer werden allmählich anders. Zur Zeit bin ich in Ponferrada, einer Großstadt. Gestern und heute habe ich einen mächtigen Bergpass überquert, um hier anzukommen. Auf der höchsten Stelle dieses Passes habe ich letzte Nacht in der wohl bisher sonderbarsten Herberge geschlafen. Es war eine Art Templer-Residenz in einer kleinen Hütte ohne Heizung, Sanitäranlagen und Warmwasser. Dafür aber mit waschechtem mittelalterlichem Plumsklo, sehr gastfreundlichen Hausherren in Templer-Kleidung und vielen süßen Hunden und Katzen. Es war super! Echt jetzt.
Ich habe schon einige größere Städte gesehen, doch ich muss sagen, von all diesen Städten war León bisher die Schönste. Ich habe recht viel Zeit dort verbraucht. Dummerweise muss man in Spanien für die Besichtigung von wichtigen Kirchen und Kathedralen immer bezahlen (außer bei Messen) und so habe ich alles Große und Prächtige immer nur von außen gesehen (mit Ausnahme von der Kathedrale in Santo Domingo de la Calzada). Eines Tages laufe ich den Jakobsweg vielleicht nochmal und kann mir solche Dinge dann leisten... Jedenfalls war ich echt begeistert von León. Und ich bin nach wie vor begeistert von den Menschen, die ich treffe. Mit einigen bin ich ein Stück gelaufen und dabei habe ich auch festgestellt, dass ich lieber alleine laufe, denn alle laufen schneller als ich und ich kann mich auch schlechter auf die Umgebung konzentrieren. Mit anderen hatte ich herrliche Abende (und Abendessen) verbracht. Es ist so seltsam, wenn man sich verabschiedet, weil man nie weiß, ob man sich wiedersieht. Im Grunde sind es nur sehr wenige Leute, die ich mehrmals getroffen habe und dieses ständige Neu-Kennenlernen und Verabschieden von Leuten finde ich auch anstrengend. Es ist alles sehr unbeständig, der Weg und die Bekanntschaften. Aber so ist es eben auf dem Camino. Jeder geht seinen eigenen Weg... und ich gehe meinen.
Fotos:
1-3: Die Kastillen vor León
4-5: Leon City und Kathedrale (zu riesig für ein Foto)
6: Puente del Orbigo
7-8: Astorga City
9-10: Die Kastillen ab León
11: Cruz de Ferro (hier legt jeder Pilger ein Steinchen ab, das er von zu Hause mitgebracht hat. So auch ich. Es war ein bewegendes Erlebnis)
12: Die Templer-Residenz
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